Dass Lehrkräfte ihren Klassen vorlesen, ist wichtignicht nur in den ersten Schuljahren, sondern während der gesamten Schullaufbahn, findet die Lese- und Literaturpädagogin Christine Sinnwell-Backes.

Gerade in der Grundschule kann Vorlesen ein kraftvolles Mittel sein, um Kinder für Bücher zu begeistern, Lesekompetenz aufzubauen und gemeinsam in Themen einzutauchen.

Im Interview verrät sie, wie Lehrkräfte das Vorlesen sinnvoll in den Unterricht integrieren und Leseförderung im Schulalltag lebendig gestalten können.

Porträt Lese- und Literaturpädagogin Christine Sinnwell-Backes

Christine Sinnwell-Backes ist Lese- und Literaturpädagogin. Sie plädiert dafür, dass Lehrkräfte das Vorlesen im Unterricht fest verankern, auch über die Grundschule hinaus.

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Das Interview in Stichpunkten

  • Vorlesen im Unterricht ist wichtig: von Klasse 1 bis 4 und darüber hinaus.
  • Vor allem Kinder aus lesefernen Familien profitieren: Sie erhalten mit vorlesenden Lehrkräften wichtige Lesevorbilder, die sie in ihrem Umfeld nicht haben.
  • Kinder entdecken die Freude an Geschichten: Gerade Kinder aus lesefernen Familien können im Unterricht erleben, dass das Vorlesen von Geschichten schön ist.
  • Bei Auswahl des Lesestoffs, Kinder mit entscheiden lassen: Damit fühlen sich Kinder gesehen, ihre Interessen fließen mit ein. Das fördert die Motivation. Durch Abstimmungen erleben sie Demokratie.
  • Autorenlesungen als Vorlese-Highlights: Durch die Veranstaltung sowie Vor- und Nachbereitung von Autorenlesungen schöpfen Lehrkräfte das volle Potenzial dieser Möglichkeit der Leseförderung aus.

Welche Rolle spielt das Vorlesen in der Grundschule?

Ich würde mir wünschen, dass das Vorlesen eine viel größere Rolle im Unterricht einnimmt, als es in vielen Schulen der Fall ist. Viele Kinder kommen mittlerweile aus Elternhäusern, in denen Vorlesen oder Lesen keine oder eine geringe Rolle spielt. Sie kommen zuhause nur selten mit Büchern in Berührung. Gerade diese Kinder profitieren davon, wenn ihnen in der Schule die Möglichkeit gegeben wird, überhaupt mal entdecken zu können, wie wunderbar es ist, vorgelesen zu bekommen. 

Bis zu welcher Klassenstufe sollten Lehrkräfte vorlesen?

Meinung nach sollten Lehrkräfte nicht nur in der ersten und zweiten Klasse, sondern auch in höheren Klassen versuchen, dem Vorlesen feste Zeiten im Unterricht einzuräumen. Wenn Lehrkräfte vorlesen und Bücher vorstellen, können sie Kinder neugierig darauf machen und motivieren, dass sich Kinder selbst mit Literatur und dem Lesen beschäftigen.

Geschichten und Bücher können gleichzeitig einen guten Einstieg in viele Themen bieten, die auf dem Lehrplan stehen. Wenn Lehrkräfte im Unterricht entsprechend thematisch passende Bücher vorlesen, verbinden Sie Inhalte des Lehrplans mit Leseförderung. 

Was tun, wenn Kinder Vorlesen langweilig finden?

Ich finde es spannend, gemeinsam eine Bibliothek oder Buchhandlung zu besuchen und Kinder bei der Auswahl des Lesestoffs selbst mitbestimmen zu lassen. Oft wird ihnen etwas vorgegeben, also Erwachsene suchen Bücher für Kinder aus. Es hilft, wenn Kinder früh Mitspracherecht bekommen.

Lehrkräfte könnten zum Beispiel einen kleinen Fundus an Büchern in die Klasse mitbringen und die Kinder abstimmen lassen, welches Buch sie vorgelesen bekommen möchten oder welches Buch Klassenlektüre sein soll. Das fördert das Gefühl der Selbstwirksamkeit und nebenbei erfahren die Kinder auch noch, wie Demokratie funktioniert. 

Klar ist: Nicht alle Kinder sind für dieselben Themen und Genres zu begeistern. Vielleicht interessieren sich manche eher für Sachbücher, die sich übrigens auch wunderbar zum Vorlesen eignen. Oder manche mögen Comics, Mangas… das sind ebenso valide Zugänge zum Lesen. Man muss sich als Erwachsene nur darauf einlassen. Es geht darum, die Neigungen und Interessen der Kinder ernst zu nehmen. Mit einer Abstimmung kann man das tun. Vielleicht dürfen die Kinder auch selbst Vorschläge einbringen, die ebenso in die Klassenabstimmung einfließen. 

Illustration Glühbirne

Ideen! Vorlese-Begeisterung stärken

Lehrkräfte und Schulen sind für Kinder aus lesefernen Familien essentiell wichtig, um bei ihnen die Lust aufs Lesen zu wecken und ihnen damit ein Geschenk fürs Leben zu machen.

 

Welche weiteren Ansätze zur Leseförderung hältst du für sinnvoll? 

In meiner Lese- und Schreibwerkstatt sind Autorenlesungen immer etwas ganz Besondere. Sie sind sozusagen die Kirsche auf der Sahne. Die Kinder erleben einen Menschen, der ein Buch geschrieben hat, der ihnen dann seine Zeit und Aufmerksamkeit schenkt und viele Fragen beantwortet. Das schafft Interesse und Motivation.

Lesungen sind eine nachhaltige Art, das Lesen zu fördern, besonders dann, wenn die Lesungen gut in den Unterricht eingebettet sind, sprich: Die Kinder werden auf die Lesung vorbereitet und es gibt eine Nachbereitung.

Darüber hinaus gibt es unendlich vieles mehr an Möglichkeiten, wie man Leseinteresse wecken kann und Leselust mit spielerischen und kreativen Elementen kombinieren kann. 

Wie sollten Grundschullehrkräfte ihre Klasse auf eine Autorenlesung idealerweise vorbereiten?

Im besten Fall besprechen Lehrkräfte im Vorfeld der Lesung Basis-Fragen, wie: Was ist eine Lesung? Wer kommt? Wie heißt die Autorin? Was machen Schriftsteller? Das weckt Neugier und fördert die Vorfreude der Kinder auf die Veranstaltung. Eine Lesung ist ein besonderes Ereignis und darf auch als solches angekündigt werden. 

Und die Rolle der Lehrkraft während der Lesung?

Die Lehrkraft ist Vorbild. Wenn sie hinten sitzt und Klassenarbeiten korrigiert, sendet sie das falsche Signal – nämlich: „Die Lesung und das Vorlesen sind nicht wichtig.“ Aber wenn sie selbst mit Begeisterung zuhört, merken das auch die Kinder. Ich finde, das Verhalten einer Lehrkraft während einer Lesung ist ein ganz klares Statement, eine starke Haltung, die Kinder prägt! 😊

 

Selfie Autorin Alexandra Wagner während Lesung mit Klasse im Hintergrund

Buch-Geschenk zu jeder Lesung

Damit die Klassen nach meinen Autorenlesungen an Grundschulen weiter in die Geschichte eintauchen können, erhält die Schule von mir immer ein Gratis-Exemplar des Buches, aus dem ich lese.

Wie bereiten Lehrkräfte Lesungen ideal nach?

Schon kleine Sachen können reichen: Ein kurzer Fragebogen, ein Quiz, ein Gespräch über die Lieblingsstellen. Wichtig ist, dass die Kinder noch mal reflektieren: Wie war das für mich? Was ist hängen geblieben? Wie wurde vorgelesen? Und idealerweise steht das Buch auch danach noch zur Verfügung: zum Nachlesen, Schmökern, Weiterentdecken. Dann kann die Geschichte nach der Lesung im Unterricht weiter besprochen werden.

Wichtig ist, dass alle Kinder Zugang zum Buch bekommen, nicht nur die, deren Eltern es kaufen können. Hier können z. B. Fördervereine helfen.

Liebe Christine, vielen Dank für das interessante Gespräch!

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Über Christine Sinnwell-Backes

Christine Sinnwell-Backes ist zertifizierte Lese- und Literaturpädagogin (BVL) sowie Schreibpädagogin. Für ihr Engagement in der Leseförderung von Kindern wurde sie 2015 mit dem Deutschen Lesepreis ausgezeichnet. Seit 2015 Jahren leitet sie Schreibwerkstätten für Kinder und Jugendliche in Schulen, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen – mit über 1.500 durchgeführten Gruppenstunden. Darüber hinaus gibt sie ihr Wissen in Workshops und als Referentin für Sprach- und Literaturvermittlung weiter.

Sie schreibt Kinderkreativ- und Kochbücher (über 100.000 verkaufte Exemplare), entwickelt begleitendes pädagogisches Material zu Kinderbüchern und veröffentlicht Erzählungen und Gedichte in Anthologien. Christine Sinnwell-Backes lebt mit ihrer Familie im Saarland.

Lese- und Literaturpädagogin Sinnwell-Backes mit eigenen Büchern auf Schoß

Mehr zu Christines Arbeit:

 

Christine und ich kennen uns aus der KinderbuchManufaktur, einer Weiterbildungs-Community für Kinderbuchkreative.

Aus dem Shop:

Cover »Lesewald, der Zauber erwacht«, Buch zum Lesenlernen

Lesewald, Der Zauber erwacht (Buch zum Lesen lernen für Erstleser),
Hardcover, 16,00€

Frontcover Foto Kinderbuch über Angst und Mut »Der Sumpfmumpf und die Hoffnung«

Der Sumpfmumpf und die Hoffnung, Hardcover, 18,95€

Zwei Kinderbücher von Magische Welt der Dinge

Nachhaltigkeit spannend erzählt: Buch-Bundle, Hardcover, 30,95€

 

Bildnachweis:

  • Foto von Christine Sinnwell-Backes: Anja Schneider
  • Foto von Alexandra Wagner: Alexandra Wagner
  • Smiley Illustration: Sabine Ebert