Laut Vorlesemonitor der Stiftung Lesen bekommt jedes dritte Kind nicht vorgelesen. Dabei profitieren Kinder enorm, wenn ihnen Eltern vorlesen. Warum das so ist und inwiefern regelmäßiges Vorlesen auch für Mütter und Väter bereichernd ist, erklärt die Lese-und Literaturpädagogin sowie Autorin Christine Sinnwell-Backes im Interview.
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Das Interview in Stichpunkten
- Vorlesen ist zeitlos wichtig: Es fördert Sprache, Fantasie, Empathie und die emotionale Entwicklung – heute mehr denn je.
- Gemeinsame Vorlesezeit stärkt die Bindung: In einem vollen Alltag schafft Vorlesen Nähe, Aufmerksamkeit und Geborgenheit – ein emotionaler Anker für Kinder und Eltern.
- Schon vor der Geburt wertvoll: Bereits im Mutterleib nimmt das Kind beruhigende Sprachmuster auf – ein früher Start in ein Leben mit Sprache.
- So früh wie möglich Vorlesen: Vom Stoffbuch über Kniereiterspiel, Vorlesebücher bis zum Sachbuch und Kinderromane – für jedes Alter gibt es passende Vorleseformate.
- Bis über das Grundschulalter hinaus vorlesen: Vorlesen bleibt sinnvoll, selbst wenn Kinder schon selbst lesen können – als Ritual, zur Entspannung oder im Wechselspiel.
- Wichtig ist Mitbestimmung: Kinder sollten mitentscheiden dürfen, was und wann vorgelesen wird – das steigert Motivation und Freude am Lesen.
- Digitale Angebote können ergänzen: Gute Plattformen (z.B. Einfach vorlesen, Amira, Bilingual PictureBooks) bieten einen einfachen Einstieg ins Vorlesen auch für lesefernen oder mehrsprachigen Familien.

Christine Sinnwell-Backes leitet als Lese- und Literaturpädagogin eine Lesegruppe, in der sie wöchentlich Kindern vorliest oder gemeinsam mit ihnen liest. Darüber sagt sie: „Seit zwanzig Jahren verbinde ich Vorlesen mit kreativen Aktionen rund um die Geschichten und ich liebe es zu sehen, wie sich die Kinder jede Woche von meiner Begeisterung für Bücher anstecken lassen.“
Warum ist Vorlesen wichtig und heutzutage vielleicht besonders wichtig?
Christine Sinnwell-Backes: Vorlesen hatte schon immer seine Bedeutung und hat es auch heute noch. Aktuell steht häufig im Fokus, dass Kindern zu wenig vorgelesen wird. Dabei lohnt sich Vorlesen immer, denn es fördert die Sprachentwicklung, Lernfähigkeit generell, Empathie und die Fantasie der Kinder. Heute leben wir in einer Gesellschaft, in der sich Betreuung und Familienstrukturen wandeln und Zeit oft knapp ist. Nach einem langen Arbeitstag noch vorzulesen, während Haushalt und andere Aufgaben rufen, empfinden viele als zusätzliche Belastung. Gerade dann bietet Vorlesen eine bewusst geschaffene Insel der Entspannung, Aufmerksamkeit und Nähe zum Kind. Vorlesen unterstützt eine enge Eltern-Kind-Beziehung bzw. die emotionale Bindung zwischen Kind und vorlesender Bezugsperson. Diese gemeinsamen Momente sind unendlich kostbar.
Inwiefern stärkt das Vorlesen die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern?
Christine Sinnwell-Backes: Die bewusste Vorlesezeit wirkt wie ein emotionaler Anker im Alltag. In einer Zeit, in der viele Familien stark durchgetaktet sind – mit Arbeit, Haushalt, Kita, KiGA, Schule, Hobbys und Haushaltsaufgaben – ist es umso bedeutender, dass es Momente gibt, die nur meinem Kind und mir gehören. Beim Vorlesen passiert genau das: Das Kind spürt, „Die ganze Aufmerksamkeit von Mama oder Papa ist jetzt bei mir – ohne Ablenkung.“ In solchen Momenten erlebt das Kind Sicherheit, Geborgenheit und Zugewandtheit. Denn: Beim Vorlesen tauchen wir gemeinsam in Geschichten ein. Dadurch bauen wir Bindung auf. Das ist etwas unendlich Kostbares – nicht nur für das Kind, sondern auch für Mamas und Papas. Über das Vorlesen ergeben sich häufig Gespräche, die es ohne die vorgelesene Geschichte nicht gegeben hätte. Auch das stärkt die Eltern-Kind-Bindung und fördert die sprachliche Entwicklung des Kindes.

Wusstest Du schon?
Laut einer Studie an der University of Sussex kann das Lesen von Büchern den aktuellen Stresspegel um bis zu 68 Prozent senken – dabei reichen bereits 6 Minuten am Tag!
Vorlesen hat für Familien damit gleich dreifachen Nutzen:
1. Gestresste Eltern können sich beim Vorlesen entspannen.
2. Sie fördern ihre Kinder.
3. Die Vorlesezeit stärkt die Eltern-Kind-Bindung.
Also… nichts wie ran ans Vorlesebuch! Idealerweise liest du deinem Kind täglich ca. 15 Minuten vor.
Wie genau unterstützt Vorlesen die sprachliche und emotionale Entwicklung?
Christine Sinnwell-Backes: Vorlesen erweitert den Wortschatz und vermittelt ein Gefühl für Sprachmelodie, Rhythmus und Ausdruck. Es bringt Kinder mit literarischer Sprache in Berührung, die über den Alltag hinausgeht. Emotional lernen Kinder beim Vorlesen Empathie, da sie in neue Lebenswelten eintauchen und unterschiedliche Sichtweisen kennenlernen. Auch „schwierige“ Themen wie Konflikte, Wut oder Angst können durch Kinderbücher aufgearbeitet werden – in einem entspannten, geschützten Rahmen.
Ab welchem Alter sollte man Kindern vorlesen?
Christine Sinnwell-Backes: Idealerweise beginnt man so früh wie möglich – schon Babys profitieren von Sprachrhythmus und Nähe. Tatsächlich wirkt sich Vorlesen sogar schon vor der Geburt positiv aus: Selbst, wenn ich schwanger bin und mit ruhiger Stimme einen Text lese, übertragen sich diese Stimme, diese Ruhe bereits auf das ungeborene Kind.
Im besten Fall wachsen Kinder von Anfang an mit Sprache und Büchern auf. Der Buchmarkt bietet passende Bücher für jedes Alter. Für Babys gibt es Stoffbücher mit einfachen, bunten Motiven, Knisterbücher, Fühlbücher und Bücher, die zusätzlich mit anderen spielerischen Elementen und ähnlichen Reizen ausgestattet sind. Auch Kniereiter- und Fingerspiele fördern im Kleinkindalter die Sprachentwicklung – ebenso wie erste Bilderbücher und einfache Sachbücher. Selbst wenn Kinder schon lesen können, bleibt Vorlesen wertvoll – als Ritual, zur Entspannung, als gemeinsames Erlebnis. Viele Kinder genießen es noch lange in der Grundschule oder darüber hinaus, wenn ihnen vorgelesen wird.
Sollten Eltern Kindern auch noch in der Grundschule und darüber hinaus vorlesen?
Christine Sinnwell-Backes: Unbedingt – ich empfehle Eltern, ihren Kindern so lange wie möglich vorzulesen, auch über die Grundschule hinaus. Viele denken: „Jetzt kann mein Kind selbst lesen, also muss ich das nicht mehr tun.“ Aber Vorlesen ist weit mehr als eine Übergangslösung, bis Kinder selbst lesen können. Es ist – wie gesagt – ein Geschenk: an Nähe, an Geborgenheit, an gemeinsame Zeit.
Gerade in der Grundschulzeit, wenn Kinder Lesen lernen, brauchen sie oft einen sicheren Hafen – jemanden, der ihnen zeigt: „Ich bin da. Ich begleite dich.“ Vorlesen kann genau das leisten. Und nur weil ein Kind lesen kann, heißt das nicht, dass es auf das Vorgelesen bekommen verzichten möchte. Im Gegenteil: Es kann ein schönes Ritual bleiben, ein Moment der Ruhe und Verbindung am Abend zum Beispiel. Es darf auch ein gegenseitiges Vorlesen werden – mal liest das Kind ein Stück vor, mal wieder die Eltern.
Mein eigener Sohn ist inzwischen elf, und auch bei uns gibt es immer wieder Phasen, in denen er mir ein Sachbuch bringt, das wir gemeinsam entdecken. Wichtig ist: Solange Kinder das gemeinsame Vorlesen genießen, sollten wir es ihnen nicht vorenthalten.

Meine Erfahrung
Während meiner Autorenlesungen an Grundschulen frage ich (Alexandra Wagner) die Kinder oft, ob ihnen zu Hause vorgelesen wird. Viele reagieren enttäuscht: „Seit ich selbst lesen kann, liest mir niemand mehr vor. Das finde ich blöd.“ Aus Sicht der Kinder bedeutet das: Kaum haben sie das Lesen gelernt, wird ihnen etwas Schönes entzogen – als würden sie für ihre neue Lese-Fähigkeit bestraft.
Daher bin ich ganz bei Christine: Lies deinem Kind so lange vor, solange es die Vorlesezeit mit dir genießt!
Was tun, wenn das Kind kein Interesse am Vorlesen zeigt?
Christine Sinnwell-Backes: Wichtig ist, Kinder mitentscheiden zu lassen. Ein gemeinsamer Besuch in der Bücherei oder Buchhandlung kann helfen, ein Buch zu entdecken, das den Interessen des Kindes entspricht. Vorlesen und die Lektüre sollen kein Zwang sein. Vielleicht begeistert sich das Kind eher für Sachbücher, Comics oder Mangas – auch das sind wunderbare Einstiegsmöglichkeiten ins (Vor-)Lesen. Selbstbestimmung fördert die Motivation und zeigt dem Kind: Lesen darf Freude machen und mir ist ganz wichtig, dass du selbst aussuchen kannst, was dir gefällt oder dass wir gemeinsam Bücher entdecken.
Welche Rolle spielen digitale Angebote beim Vorlesen? Ist das Vorlesen von Online-Geschichten genauso wertvoll wie aus Büchern?
Christine Sinnwell-Backes: Digitale Geschichten auf Tablets oder Smartphones können ein Einstieg sein – besonders für Familien, in denen Bücher bisher keine große Rolle spielen. Plattformen wie Einfach vorlesen von der Stiftung Lesen bieten qualitativ hochwertige, kostenfreie Geschichten aus renommierten Verlagen, die jeweils für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung stehen. So haben auch Familien ohne umfangreiche Bücherausstattung Zugang zu guten Geschichten – ein wichtiger Schritt, um Kinder überhaupt erst ans Lesen heranzuführen. In solchen Fällen ist für mich jedes Mittel recht, das Kindern und Familien den Weg zum Lesen erleichtert.
Besonders hilfreich sind digitale Angebote auch für Familien mit anderer Herkunftssprache: Es gibt Online-Plattformen wie Amira oder das Projekt Bilingual PictureBooks der Lübecker Bücherpiraten, bei dem Kinder eigene Geschichten schreiben, die dann von Freiwilligen in viele Sprachen übersetzt werden – kostenfrei zugänglich und ideal für den mehrsprachigen Lesestart.
Trotzdem finde ich: Ein echtes Buch in der Hand – die Haptik, das Blättern, die großflächigen Illustrationen – bleibt ein besonderes Erlebnis, vor allem bei Bilderbüchern. Aber digitale Angebote können das Vorlesen ergänzen und Familien erreichen, die sonst vielleicht keinen Zugang zu Geschichten hätten. Hauptsache Lesen bzw. Vorlesen.
Liebe Christine, vielen Dank für das ausführliche und interessante Gespräch!
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Über Christine Sinnwell-Backes

Christine Sinnwell-Backes ist zertifizierte Lese- und Literaturpädagogin (BVL) sowie Schreibpädagogin. Für ihr Engagement in der Leseförderung von Kindern wurde sie 2015 mit dem Deutschen Lesepreis ausgezeichnet. Seit 2015 Jahren leitet sie Schreibwerkstätten für Kinder und Jugendliche in Schulen, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen – mit über 1.500 durchgeführten Gruppenstunden. Darüber hinaus gibt sie ihr Wissen in Workshops und als Referentin für Sprach- und Literaturvermittlung weiter.
Sie schreibt Kinderkreativ- und Kochbücher (über 100.000 verkaufte Exemplare), entwickelt begleitendes pädagogisches Material zu Kinderbüchern und veröffentlicht Erzählungen und Gedichte in Anthologien. Christine Sinnwell-Backes lebt mit ihrer Familie im Saarland.
Mehr zu Christines Arbeit:
- Süße und kreative Ideen: www.littleredtemptations.com
- Leselust wecken: www.lesenische.wordpress.com
- Workshops und Impulse: www.buecherkonfetti.de

Christine und ich kennen uns aus der KinderbuchManufaktur, einer Weiterbildungs-Community für Kinderbuchkreative.
Bildnachweis:
- Foto von Christine Sinnwell-Backes: Anja Schneider
- Foto von Alexandra Wagner: Christian Willner
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