Gründe, warum sich manche Kinder weigern zu lesen oder sich gegen das Lesenlernen wehren, gibt es viele. Oft spielt dabei aber ein negatives Lese-Selbstkonzept eine Rolle. Die Expertin für Leseförderung, Autorin und ehemalige Lehrerin Heidemarie Brosche spricht darüber, was ein negatives Lese-Selbstkonzept ist, wie es entsteht und wie Lehrkräfte und Eltern Kindern helfen können, ein negatives Lese-Selbstkonzept zu vermeiden bzw. in ein positives umzukehren.

Porträt von Heidemarie Brosche, Expertin für Leseförderung

Heidemarie Brosche ist Expertin für Leseförderung, Autorin und ehemalige Mittelschullehrerin. Sie weiß, dass ein negatives Lese-Selbstkonzept einen Teufelskreis eröffnen kann. Dieser endet oft darin, dass Kinder nicht mehr freiwillig lesen und infolgedessen wenig Fortschritte machen. Schnelle Erfolge beim Lesenlernen können diesem Teufelskreis vorbeugen.

Das Interview in der Zusammenfassung:

  • Ein negatives Lese-Selbstkonzept ist, wenn Kinder über sich denken, dass sie keine Leser/ Leserinnen sind
  • Fehlende Erfolgserlebnisse beim Lesenlernen und Lesen führen zu einem negativen Lese-Selbstkonzept.
  • Ein negatives Lese-Selbstkonzept verschlimmert die Lage, da diese Kinder noch lustloser und weniger lesen und damit immer mehr zurückfallen.
  • Daher ist es wichtig, dass Kinder bereits am Beginn des Lesenlernens Erfolgserlebnisse haben und eigene Fortschritte sehen.
  • Bücher, die zu Leseniveau der Kinder passen, helfen durch Erfolgserlebnisse ein negatives Lese-Selbstkonzept zu vermeiden oder das Selbstbild zu verbessern.

Was ist ein negatives Lese-Selbstkonzept?

Heidemarie Brosche: Jeder Mensch hat ein Selbstkonzept in verschiedensten Bereichen. Das ist – vereinfacht ausgedrückt – ein Bild davon, wie gut oder schlecht man etwas kann. Beispielsweise, ob man findet, dass man eine gute Sportlerin ist, ob man gut malen kann, singen kann etc. Es ist ein Bild, das man von sich selbst hinsichtlich einer bestimmten Sache hat.

Beim Lesen ist das das sogenannte Lese-Selbstkonzept. Kinder vergleichen sich sehr schnell mit anderen. Wenn sie merken, die anderen lesen flüssiger, schneller, verstehen mehr als ich, entsteht oft der Gedanke: „Ich bin keine gute Leserin, ich bin kein guter Leser.“ Wenn Kinder das denken, haben sei ein negatives Lese-Selbstkonzept entwickelt.

Ein holpriger Einstieg ins Lesenlernen und fehlende Erfolgserlebnisse können dazu führen, dass Kinder ein negatives Lese-Selbstkonzept entwickeln. Das sollte unbedingt vermieden werden, indem Kinder schnell Erfolge und Fortschritte beim Lesenlernen machen. Die Entwicklung eines negativen Lese-Selbstkonzept zu vermeiden, ist einfacher als es zu reparieren.

Welche Folgen hat ein negatives Lese-Selbstkonzept?

Heidemarie Brosche: Ein negatives Lese-Selbstkonzept wirkt wie eine Bremse. Zuerst versuchen Kinder, die Leseschwierigkeiten haben, zwar noch mitzuhalten, stellen jedoch schnell fest, dass sie trotz Anstrengung nicht so erfolgreich lesen wie die anderen. Daraus entsteht Frust. Dann folgen Resignation und Vermeidungsverhalten, um sich selbst vor dem Gefühl des ständigen Versagens beim Lesen zu schützen.

Sie sagen sich: „Ich lese nicht gern, es ist für mich so eine Qual und Lesen ist sowieso langweilig. Ich bin eben kein Leser, ich bin keine Leserin.“ Bis sie freiwillig eben gar nichts mehr lesen. Diese Haltung kann sich über Jahre verfestigen und ist später kaum mehr zu durchbrechen. Je älter sie werden, umso schwieriger wird es, sich zu motivieren und zu beschließen: „Ich setze mich jetzt hin und lese, auch wenn ich darin noch nicht so gut bin.“

Es ist also extrem wichtig, dass Kinder beim Lesenlernen früh Erfolgserlebnisse haben und eigene Leselern-Fortschritte sehen. Damit lässt sich der Einstieg in den Teufelskreis eines negativen Lese-Selbstkonzept vermeiden.

Mädchen im Grundschulalter sitzt in Kinderzimmer und wirft Buch mit genervtem Gesichtsausdruck weg

Kein Bock auf Lesen! Damit Kinder die Motivation im Leselernprozess nicht verlieren, sind frühzeitige Erfolge wichtig. Damit wird der Teufelskreis vermieden, der mit einem negativen Lese-Selbstkonzept beginnt. 

Welcher Teufelskreis tut sich durch ein negatives Lese-Selbstkonzept auf?

Heidemarie Brosche: Durch ein negatives Lese-Selbstkonzept tut sich folgender Teufelskreises auf: Wenn ich über mich denke, dass ich nicht lesen kann und es mir keinen Spaß macht, dann werde ich nicht lesen und somit das Lesen nicht üben. Wenn ich das Lesen nicht übe, bleibt das Lesen anstrengend und macht im Laufe der Zeit immer noch weniger Spaß als bisher schon, sodass ich das Lesen noch mehr vermeide – auch um mir selbst diese Negativerlebnisse und das negative Bild von mir selbst zu ersparen. Das geht im schlimmsten Falle so lange, bis ich schließlich die Schule ohne ausreichende Lesekenntnisse verlasse.

Wie lässt es sich vermeiden, dass Kinder ein negatives Lese-Selbstkonzept entwickeln?

Heidemarie Brosche: Ein negatives Lese-Selbstkonzept lässt sich vermeiden, indem Kinder von Beginn an Erfolge beim Lesenlernen haben. Wenn dies zuhause nicht der Fall ist, wie bei Kindern aus lesefernen Familien, ist ihre größte Chance die Schule.

Kleiner Einschub: Genau genommen, sind für Kinder aus lesefernen Familien die erste große Chance Krippe und Kindergarten. Aber auch hier muss natürlich ausreichend und genügend engagiertes Personal vorhanden sein, um gerade die Kinder zu fördern, die aus leseferner Umgebung kommen.

Der Begriff „lesefern“ ist hierbei wertfrei zu verstehen. Er drückt lediglich aus, dass es Familien gibt, in denen aus unterschiedlichen Gründen, Bücher und Lesen keine Rolle spielen. (Anmerkung der Redaktion: Mehr über leseferne Familien findest du in dem Interview „Warum Kinder nicht lesen lernen“ mit Heidemarie Brosche)

Wie können Grundschullehrkräfte helfen, dass Kinder ein positives und kein negatives Lese-Selbstkonzept entwickeln?

Heidemarie Brosche: In der Schule müssen Lehrkräfte die Kinder bereits im ersten Schuljahr aufmerksam beobachten, um frühzeitig Kinder mit Leseschwierigkeiten zu erkennen und entsprechend zu handeln. Denn bereits in der zweiten Klasse klaffen die Lesefähigkeiten extrem auseinander. Ein Kind liest flüssig, während das andere noch Buchstaben entziffert.

Möglichst frühes Fördern ist der Schlüssel. Der Idealfall wäre eine individuelle Förderung für diese Kinder, aber die kostet Geld, das dafür leider nicht bereitgestellt wird. Beim aktuellen Lehrkräftemangel können Lehrerinnen und Lehrer eine individuelle Förderung von Kindern mit Leseproblemen auch nur schwer oder gar nicht leisten.

Es wundert mich deshalb nicht, dass die Ergebnisse bei Studien wie IGLU sich in den letzten Jahren nicht verbessert haben. Wenn man wirklich etwas ändern will, muss man einfach praktikable Wege finden, die allen Kindern positive Erlebnisse mit dem Lesen verschaffen, auf dass immer weniger Kinder ein negatives Lese-Selbstkonzept entwickeln.

Wie kann man Kindern mit Leseschwierigkeiten Erfolgserlebnisse beim Lesenlernen ermöglichen und das Lesen als etwas Schönes vermitteln?

Heidemarie Brosche: Zum einen gibt es unterschiedliche Verfahren, die nachgewiesenermaßen die Leseflüssigkeit verbessern, und genau an der hapert es ja oft. Es sind die sogenannten Lautleseverfahren, z. B. Tandemlesen, chorisches Lesen, sowie hörtextbegleitetes Lesen. Wichtig ist hier, dass leseschwache Kinder nicht in Situationen geraten, in denen sie sich vor den anderen blamiert fühlen. Beispiel chorisches Lesen: Hier können sich Kinder mit Leseschwierigkeiten sozusagen in der Menge verstecken und mitlesen. Sie üben, ohne dass ihre Leseprobleme von der gesamten Klasse erkannt werden.

Zum anderen ist die Auswahl des Lesestoffs relevant. Ein Buch muss für das Kind interessant sein, von Thema und Handlung her seinem Alter entsprechen, aber gleichzeitig auch seiner Lesefähigkeit. Und da wird es schwierig. Für Kinder mit Leseschwierigkeiten, gibt es bisher leider nur wenige Bücher am Markt.

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Buch-Tipps für Kinder mit Leseschwierigkeiten

Wenn Kinder nicht lesen wollen, ist manchmal der Lesestoff schuld. Denn Bücher müssen vom Thema her und zum Leseniveau des Kindes passt. Stimmt das Leseniveau nicht, kann sich das Kind überfordert fühlen und das Lesen verweigern.

Lesestoff für Kinder mit Erfolgserlebnis-Garantie:

Klassen 1 & 2 (6 bis 8 Jahre)

  • Lesewald, Der Zauber erwacht: Vorlesebuch mit Selbstlese-Anteilen nach der Methode der Treppenwörter für einen einfachen Einstieg ins Lesen und schnelle Erfolgsergebnisse. Autorin: Alexandra Wagner, Illustration: Manuela Buske)
  • Lesen mit Ella und Tim: Erstlesebuch mit wenigen Wörtern pro Seite und in großer Schrift und Comic-Stil. Autorin: Heidemarie Brosche, Illustration: Julia Bittruf

Klassen 3 & 4 (8 bis 10 Jahren)

ab Klasse 5 (ab 11 Jahren)

  • Das muss doch nicht so bleiben, X-Light-Variante: Kinderroman mit großer Schrift und Illustrationen. Autorin: Heidemarie Brosche. Illustration: Juliane Filep.

ab Klasse 6 (12 Jahre)

  • Lucky Loser, auch als light-Variante: Kinderroman. Autorin Heidemarie Brosche. Illustration: Mo Kast.
  • Jonas dribbelt durch die Wörter: speziell für Kinder mit Lese-Rechtschreibschwäche von Lerntherapeutin Norma Cleve.

Wodurch zeichnen sich Bücher für leseschwache Kinder aus und welche gibt es?

Heidemarie Brosche: Bücher für leseschwache Kinder sind in größerer Schrift gedruckt, als das für das Alter üblich ist. Es wird eine besonders einfach lesbare Schrift eingesetzt. Die Sätze sind sehr kurz. Es werden einfach zu lesende Wörter verwendet, ebenso wird bewusst mit Wortwiederholungen gearbeitet, damit der Übungseffekt besser ist. Von Schriftgröße und Sprachgebrauch her befinden sich diese Bücher also auf einem deutlich einfacheren Niveau als die meisten herkömmlichen Bücher für diese Altersgruppe.

Du selbst schreibst Bücher für Kinder mit Leseschwierigkeiten, warum?

Heidemarie Brosche: Mir ist es wichtig, dass beim Thema Lesen und Bildung kein Kind hinten runterfällt. Schlecht lesen zu können, mündet sehr oft in schlechten schulischen Leistungen und dies führt zu weniger Chancen im Berufsleben und zu weniger gesellschaftlicher Teilhabe. Das ist ungerecht.

Deswegen möchte ich auch Kinder, die sich mit dem Lesen schwertun, durch passenden Lesestoff zum Lesen motivieren, damit sie doch noch Freude daran finden und alle positiven Effekte, die sich aus einer guten Lesekompetenz ergeben, mitnehmen können. Außerdem ist es schön, ein Kind, das Schwierigkeiten mit dem Lesen hat, stolz und mit einem Leseerfolg zu sehen. Wir alle brauchen Erfolgserlebnisse, denn diese treiben uns an, weiterzumachen. Das wünsche ich mir für meine Bücher: Dass leseschwache Kinder Erfolgserlebnisse haben und darüber zum Lesen und zu besserer Bildung finden.

Liebe Heidemarie, vielen Dank für das interessante Gespräch.

Porträtbild Leseföderexpertin Heidemarie Brosche mit Büchern
Über Heidemarie Brosche:

Heidemarie Brosche ist Kinder-, Jugend- und Sachbuchautorin und Expertin für Leseförderung. Besonders Kinder aus lesefernen Familien an Bücher und das Lesen heranzuführen, liegt ihr am Herzen. Sie war viele Jahre Mittelschullehrerin und hat mit vielen leseschwachen Jugendlichen und Kindern aus lesefernen Familien gearbeitet. Diese Erfahrungen fließen in ihre Bücher, Lesungen und Vorträge ein. Für ihr Engagement in den Bereichen Leseförderung und Bildungsgerechtigkeit wurde sie 2020 mit dem „Volkacher Taler“ der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet.

Mehr zu Heidemarie Brosche findest du auf ihrer Website.

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Quellen:

Bildnachweis:

privat von Heidemarie Brosche und Canva