Kinder, die bereits beim Lesenlernen verzweifeln und keine Erfolgserlebnisse haben, entwickeln oft ein negatives Selbst-Lesekonzept. Das ist der Einstieg in einen Teufelskreis.
Das Interview in der Zusammenfassung
- Die Lesefähigkeiten von Kindern nehmen seit Jahren ab.
- Es mangelt an Lesefertigkeit und/oder an Leseverstehen.
- Kinder aus lesefernen Familien haben es besonders schwer beim Lesenlernen und tragen ein höheres Risiko, schwache Leser und Leserinnen zu werden.
- Fehlende Erfolgserlebnisse beim Lesenlernen und Lesen führen zu einem negativen Lese-Selbstkonzept („Ich bin eben kein Leser“).
- Ein negatives Lese-Selbstkonzept verschlimmert die Lage, da diese Kinder noch lustloser und weniger lesen und damit immer mehr zurückfallen.
- Kinder mit Leseschwierigkeiten, besonders aus lesefernen Familien, sollten schon in der 1. Klasse unterstützt und durch Erfolgserlebnisse für das Lesen begeistert werden.
- Die Förderung von Kindern mit Leseproblemen in der Schule gelingt durch diverse Lautleseverfahren und passende Bücher.
Heidemarie Brosche ist Autorin, ehemalige Mittelschullehrerein und Expertin für Leseförderung. Kinder aus lesefernen Familien liegen ihr besonders am Herzen. Mit ihren Büchern möchte sie auch Kinder, die Leseprobleme haben, zum Lesen motivieren und ihre Bildungschancen erhöhen.
Viele Kinder in Deutschland verlassen die Grundschule, ohne richtig lesen zu können. Warum ist das heute so?
Heidemarie Brosche: Diese Entwicklung ist kein neues Phänomen. Es bahnt sich bereits seit sehr vielen Jahren an und Studien (wie z. B. die IGLU Studie 2021) stellen regelmäßig fest, dass ein bestimmter Prozentsatz von Kindern am Ende der Grundschule nicht ausreichend lesen kann. Dabei bedeutet die Aussage „nicht ausreichend lesen können“ im Extremfall, dass ein Kind wirklich gar nicht lesen kann. Aber auch, wenn es nicht versteht, was es gelesen hat, ist das natürlich fatal. Ohne Leseverständnis kann ein Kind nicht kritisch über den Text nachdenken. Und gerade dieses kritische Denken ist in Zeiten von Social Media und Fake News wichtiger denn je und Voraussetzung, um nicht manipulierbar zu sein.
Was genau bereitet Kindern beim Lesen und Lesenlernen so große Schwierigkeiten?
Heidemarie Brosche: Es gibt Kinder, denen fehlt die Lesefertigkeit. Ganz einfach ausgedrückt: Sie schaffen es nicht, Buchstaben und Buchstabenkombinationen Lauten zuzuordnen, diese zu verbinden und so Wörter entstehen zu lassen. Das ist das eine. Zum anderen gibt es Kinder, die den technischen Vorgang des Lesens zwar umsetzen können und die Wörter mehr oder weniger flüssig runterlesen, aber den Text nicht verstehen. Beispielsweise weil sie einen geringen Wortschatz haben, wenig Sprachkompetenz, ihnen Redewendungen und Redensarten nicht bekannt sind oder weil ihnen Weltwissen fehlt.
Damit aber Lesen befriedigend ist und Spaß macht, müssen zwei Fähigkeiten zusammentreffen: die, flüssig zu lesen, und die, zu verstehen, was gelesen wurde. Wenn Kindern dieses Können fehlt, verlieren sie die Lust am Lesen, lesen dadurch noch weniger und verschlimmern ungewollt selbst ihre Situation. Ich habe sehr lange als Lehrerin an einer Mittelschule, die man als Brennpunktschule bezeichnen kann, unterrichtet, und erlebt, was es für Folgen hat, wenn Kinder nicht rechtzeitig, also in der Grundschule, gut lesen lernen.
Was passiert, wenn Kinder ohne ausreichende Lesefähigkeit in die weiterführende Schule wechseln?
Heidemarie Brosche: In weiterführenden Schulen hat man die Erwartung, dass Kinder lesen können und verstehen, was sie lesen. Das ist die Voraussetzung. Darauf sind Unterricht und Materialien ausgerichtet. Wer nicht richtig lesen kann, fällt meist durchs Raster und wird es sehr schwer haben, gute schulische Leistungen zu erzielen. Denn in allen Fächern ist Lesen und Leseverstehen die Basis. Selbst in Sport muss man Regeln lesen und verstehen. Wie soll ein Kind eine Textaufgabe in Mathe lösen, wenn es nicht einmal den Sinn der Worte versteht, die es liest?
Wie groß sind die Unterschiede im Lesevermögen und der Einstellung gegenüber Bücher von Kindern bzw. Jugendlichen?
Heidemarie Brosche: Als Lehrerin und Autorin bin ich begeisterte Leserin. Ich konnte mir lange nicht vorstellen, dass man sich nicht auf die Lektüre eines Buches freuen kann, bis ich ein Schlüsselerlebnis hatte.
Im Rahmen der Leseförderung habe ich Unmengen von Büchern in meine 8. Klasse geschleppt – meine eigenen, von Verlagen und von Autorenkolleginnen und -kollegen. Die Jugendlichen sollten sich ein Buch aussuchen und dann im Stillen für sich lesen. Manche freuten sich sichtlich darauf und vertieften sich in die Lektüre. Andere schauten nicht ins Buch, sondern in die Luft, obwohl sie mehrmals ihre Lektüre tauschen durften, um ein Buch zu finden, das ihnen wirklich gefiel.
Die Situation gipfelte darin, dass ein Achtklässler nach dem freien Lesen zu mir sagte: „Frau Brosche, jetzt habe ich dreimal dieselbe Seite gelesen. Ich habe Kopfschmerzen und ich habe keine Ahnung, was da drinsteht.“ Da wurde mir erst so richtig klar, wie groß das Elend von Kindern und Jugendlichen beim Lesen sein kann und wie stark Bücher von ihrer Machart her auf gute Leser und Leserinnen ausgerichtet sind. Manche haben sich in der 8. Klasse tatsächlich Erstlesebücher gegriffen, weil es da eine große Schrift, einfach zu lesende Texte und viele Illustrationen gab. Aber inhaltlich hat das natürlich gar nicht gepasst.
Woran liegt es, dass sich manche Kinder so schwer tun mit dem Lesenlernen?
Heidemarie Brosche: Ich würde sagen, es gibt drei Gruppen von Kindern, bei denen es mit dem Lesen nicht so recht klappt.
1. Lesemuffel aus Familien, in denen Bücher, Lesen und Bildung dazugehören
Es gibt Kinder, die wachsen zwar mit Büchern auf, ihnen wurde auch vorgelesen, aber das Lesen macht ihnen einfach keinen Spaß. Die nenne ich Lesemuffel. Sie finden Lesen vielleicht anstrengend oder uncool. Sie treiben lieber Sport oder fühlen sich zu Computerspielen hingezogen, haben wenig Sitzfleisch und schlichtweg andere Interessen. Dadurch lesen sie automatisch wenig, haben wenig Übung und lernen das Lesen infolgedessen nicht so gut oder langsamer. Daher machen sie nicht so schnell die Erfahrung, dass Lesen ein Vergnügen sein kann. Aber sie haben trotzdem – dank ihrer Familie – ein größeres Weltwissen, einen größeren Wortschatz, eine größere Sprachkompetenz. Sie kommen trotzdem von klein auf mit Lesestoff in Kontakt, erleben ihre Eltern trotzdem als Lesevorbilder, werden trotzdem bestärkt, wenn sie lesen, vermutlich sogar gefördert und sie kommen immer wieder mit Menschen in Kontakt, die lesen. Bei ihnen stehen die Chancen gut, dass sie ausreichend gut lesen lernen, auch wenn Lesen vielleicht nie ihre Lieblingsbeschäftigung wird oder auch wenn sie vielleicht „nur“ Sachtexte im Internet lesen.
2. Kinder aus lesefernen Familien
Ein Großteil der Kinder, die nicht gut lesen können, kommen aus lesefernen Familien. Das sind Familien, in denen es keinen Lesestoff und keine Lesevorbilder gibt und in denen nicht vorgelesen wird. Bücher an sich sowie das Lesen selbst genießen hier keinen hohen Stellenwert.
Der Begriff „lesefern“ ist in keiner Weise abwertend gemeint. Er soll lediglich ausdrücken, dass in diesen Familien das Lesen eben keine Rolle spielt. Das kann daran liegen, dass schon die Eltern in Familien groß wurden, die mit dem Lesen nichts am Hut hatten oder dass die Eltern buchstäblich andere Sorgen haben. Es kann aber auch kulturell bedingt sein. Es gibt Kulturen, in denen ist Lesen eher negativ besetzt, oder mündliche Erzählungen genießen ein deutlich höheres Ansehen als das geschriebene Wort. Daneben gibt es Eltern, die primäre oder funktionale Analphabeten oder in der deutschen Sprache sehr unsicher sind.
Dementsprechend vermeiden sie es, ihren Kindern vorzulesen oder mit ihnen das Lesen zu üben. So haben es die Kinder aus diesen Familien nie erlebt, dass Vorlesen und Lesen schön sein kann. Sie haben nie gelernt, dass man sich auf eine Geschichte konzentrieren muss und es sich lohnt, zuzuhören.
Sie erleben den Leselernprozess als anstrengend und plagen sich, ohne im Hinterkopf zu haben, dass sich die Mühen lohnen, weil mit dem Lesenkönnen etwas Schönes und Bereicherndes auf sie wartet. Der Leselernprozess ist für sie oft viel mehr Last als Lust, manchmal auch eine regelrechte Qual. Gerade für diese Kinder ist es extrem wichtig, dass die Schule positive Leseerlebnisse schafft!
3. Kinder mit Beeinträchtigungen
Dann gibt es auch Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS), mit Wahrnehmungsstörungen oder z. B. Sprachentwicklungsstörungen. Diese Kinder brauchen beim Lesenlernen eine spezielle Förderung und Lerntherapie.
Daneben sind Traumata ein Faktor, der den Leselernprozess hemmen kann. Hier denke ich besonders an Kinder mit Fluchterfahrung oder solche, die Schlimmes erlebt haben oder in Familien leben, bei denen grundsätzlich große Probleme herrschen, wie Gewalt, Sucht, Vernachlässigung u.ä. Auch psychische Probleme und großer Kummer können zu Lernschwierigkeiten führen. Das ist verständlich. Wie soll man sich auf Lesen und Lernen konzentrieren, wenn existentielle Sorgen das Leben beherrschen?
Und wenn man bedenkt, dass – Schätzungen zufolge – in Deutschland jede Stunde ein Kind mit FASD (Fetale Alkoholsyndrom-Störungen) zur Welt kommt, sollte man auch dies als mögliche Beeinträchtigung nicht übersehen.
Unabhängig davon, woher die Schwierigkeiten beim Lesenlernen herrühren, kann es bei all diesen Kindern zum gleichen Phänomen kommen, nämlich zur Entwicklung eines negativen Lese-Selbstkonzepts.
Die Folge eines negativen Lese-Selbstkonzeptes ist, dass Kinder gar nicht mehr freiwillig lesen und sich von Büchern abwenden. Damit verschlimmern sie ungewollt ihre Situation. Daher ist es wichtig, dass Kinder bereits zu Beginn des Lesenlernens Erfolgserlebnisse haben.
Durch Schwierigkeiten beim Lesenlernen können Kinder ein negatives Lese-Selbstkonzept entwickeln. Was bedeutet dieser Begriff?
Heidemarie Brosche: Jeder Mensch hat ein Selbstkonzept in verschiedensten Bereichen. Das ist – vereinfacht ausgedrückt – ein Bild davon, wie gut oder schlecht man etwas kann. Beim Lesen ist das das sogenannte Lese-Selbstkonzept. Kinder vergleichen sich sehr schnell mit anderen. Wenn sie merken, die anderen lesen flüssiger, schneller, verstehen mehr als ich, entsteht oft der Gedanke: „Ich bin keine gute Leserin, ich bin kein guter Leser.“ Durch einen holprigen Einstieg ins Lesenlernen und fehlende Erfolgserlebnisse im Fortlauf entwickeln Kinder ein negatives Lese-Selbstkonzept. Das sollte unbedingt vermieden werden.
Wie lässt sich einem negativen Lese-Selbstkonzept vorbeugen?
Heidemarie Brosche: Einem negativen Lese-Selbstkonzept, das oft im Vermeiden des Lesens endet, lässt sich vorbeugen, indem Kinder von Beginn an Erfolge beim Lesenlernen haben.
Wenn dies zuhause nicht der Fall ist, wie bei Kindern aus lesefernen Familien, ist ihre größte Chance die Schule. Hier helfen Lautleseverfahren, wie z. B. das Tandemlesen, chorisches Lesen oder das hörtextbegleitete Lesen. Daneben ist geeigneter Lesestoff wichtig. Bücher müssen zu einem Kind oder Jugendlichen hinsichtlich Thema, Inhalt und zum Lese-Niveau passen. Für Kinder und Jugendliche, die Probleme mit dem Lesen haben, hält er Buchmarkt leider wenig Auswahl bereit.
Kleine Ergänzung: Genau genommen, sind für Kinder aus lesefernen Familien die erste große Chance Krippe und Kindergarten. Aber auch hier muss natürlich ausreichend und genügend engagiertes Personal vorhanden sein, um gerade die Kinder zu fördern, die aus leseferner Umgebung kommen.
Liebe Heidemarie, vielen Dank für das ausführliche und interessante Gespräch!
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Heidemarie Brosche ist Kinder-, Jugend- und Sachbuchautorin und Expertin für Leseförderung. Besonders Kinder aus lesefernen Familien an Bücher und das Lesen heranzuführen, liegt ihr am Herzen. Sie war viele Jahre Mittelschullehrerin und hat mit vielen leseschwachen Jugendlichen und Kindern aus lesefernen Familien gearbeitet. Diese Erfahrungen fließen in ihre Bücher, Lesungen und Vorträge ein. Für ihr Engagement in den Bereichen Leseförderung und Bildungsgerechtigkeit wurde sie 2020 mit dem „Volkacher Taler“ der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet.
Mehr zu Heidemarie Brosche findest du auf ihrer Website.
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- GLU Studie Lesekompetenz, 2021: https://www.pedocs.de/volltexte/2023/28075/pdf/McElvany_et_al_2023_IGLU_2021_Lesekompetenz.pdf
- Alkohol in der Schwangerschaft (mit Folge FASD), 2018: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen/2018/3-quartal/fasd-projekt.html
Bildnachweis:
privat von Heidemarie Brosche und Canva
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